Charmant und unverschämt

Du hebst im Fitnessstudio halb so viel Gewicht wie dein*e Trainingspartner*in. Du wirst von deinem*r Gynäkolog*in informiert, dass du eine Pilzinfektion hast. Die Person, mit der du schlafen willst, hat mehr Erfahrung als du. Du stehst in einer öffentlichen Dusche und bist nicht rasiert. Du hältst ein Referat und alle im Raum können deine Nervosität anhand der Schweißflecken an einem Shirt ablesen. Du hast einen roten Fleck hinten an der Jeans, weil deine Menstruationstasse überläuft. Du sitzt am See und versuchst unauffällig, deine Dehnungsstreifen mit einem Handtuch zu verdecken. Jemand macht einen Witz und alle merken, dass du ihn nicht verstehst. Du redest mit deinen Kumpels über Sex und sie behaupten, dass die Dinge, auf die du mit deiner Partnerin stehst, “voll schwul” sind. Du stellst fest, dass die Menschen in Pornos eine kleinere Vulva oder einen größeren Penis haben.
 
Was haben diese Situationen gemeinsam? Mit ziemlicher Sicherheit würdest du Scham verspüren, wenn du sie durchlebst. Ich könnte noch so viele Geschichten erzählen, in denen zumindest ich es nicht schaffe oder schaffen würde, selbstbewusst auf meine innere Stimme zu hören, die mir sagt, dass das, was gerade passiert kein Grund ist, rot zu werden und sich in Unsicherheiten zu verlieren.

Aber was ist eigentlich diese nervige Scham? Im Internet wird sie definiert als ein “quälendes Gefühl der Verlegenheit, das durch Reue, Bloßgestelltsein, durch die Erkenntnis des eigenen Versagens oder durch etwas Unanständiges, Unehrenhaftes, Lächerliches ausgelöst wird”. Sie bleibt nicht immer beim Rotwerden, sondern kann auch zu anhaltender tiefer Demütigung und Gewichtsverlust führen. Es gibt sogar chronische Scham, hier rufen meist psychische Traumata ein krankhaftes, andauerndes Schamgefühl hervor.  

Abgesehen davon, dass Scham also einfach kein schönes Gefühl ist und drastische Ausmaße annehmen kann, kann Scham auch gefährlich werden, wenn sie uns davon abhält, wichtigen ärztlichen Untersuchungen nachzugehen. Denn eine Studie gibt an, dass mindestens einer von vier Menschen mit Vulva zwischen 25 und 64 regelmäßige Tests, zum Beispiel Abstriche zur Krebsvorsorge, vernachlässigen. 35 Prozent der Befragten taten das aus Schamgefühl wegen ihrer Figur, 38 Prozent sorgen sich um ihren Geruch in der Intimzone. Bei jüngeren Befragten gab ein Drittel an, dass sie einem Abstrich bei dem*der Gynäkolog*in nur zustimmen würden, wenn zuvor der Intimbereich enthaart worden sei. 
Gerade der Intimbereich scheint also ein Ort zu sein, wo Scham gar nicht wegzudenken ist. Kein Wunder, wenn wir in der Schule lernen, dass das da zwischen den Beinen zum Beispiel “Schamlippen” und “Schamhaare” heißt. Erst vor einigen Monaten habe ich mir darüber Gedanken gemacht und diese Wörter aus meinem Wortschatz verbannt – ich verwende jetzt nur noch „Vulvalippen“ und “Intimbehaarung”. 
Eine meiner liebsten Poetry-Slammer*innen, Agnes Maier, macht in ihrem Text „Let´s talk about how we talk about sex, baby“ einen weiteren Vorschlag: 
„Könnten meine Vulvalippen sprechen, sie würden dir erzählen, sie hätten keinen Bock mehr, sich die ganze Zeit zu schämen, denn ich schäme mich nicht. Und das ist nicht meine Scham, nein, das ist meine Vulva, und überhaupt hat sie Charme. Wir sind charmant, meine Vulvalippen und ich – wenn du willst, kannst du sie Charmelippen nennen!“

Natürlich haben auch Menschen ohne Vulva ihre Unsicherheiten und empfinden oft Scham in Bezug auf ihre Genitalien. Da ist zum Beispiel die klassische Sorge, nicht « groß genug » zu sein – egal ob Penis oder Körpergröße. Außerdem haben Männer oft Angst, vom Freund*innenkreis aufgrund bestimmter Verhaltensweisen oder Vorlieben die Männlichkeit abgesprochen zu bekommen. Oder in Bezug auf die Figur: viele Männer schämen sich dafür, nicht so trainiert zu sein wie der Cast von Magic Mike, sie haben Bedenken, “zu dick” oder “zu dünn” zu sein. Während weiblich sozialisierte Menschen eher Angst haben, zu viel Sex zu haben, ist die Anzahl der Sexpartner*innen bei männlich sozialisierten Menschen schon fast ein Statussymbol – in meinem Umkreis schämen sich die Männer viel mehr für den Mangel an sexuellen Erfahrungen als die Frauen.

Für Neujahrsvorsätze ist es ja irgendwie zu spät, aber wie wäre es mit einem Sommer-Vorsatz? Können wir diesen Sommer am See mal alle sorglos unsere Körperbehaarung, unsere Bäuche und unsere Dehnungsstreifen in die Sonne strecken? Und gleich dazu könnten wir in den anderen genannten Situationen versuchen, die Furcht vor der Reaktion der Umstehenden mal runterzuschlucken. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass es ein Privileg ist, das tun zu können, denn für Menschen, die von alltäglicher Diskriminierung betroffen sind, ist es schwieriger und vielleicht sogar gefährlicher, sich von gesellschaftlichen Normen zu distanzieren.